Das Thema Suizid kenne ich wohl von allen Seiten. 

TRIGGERWARNUNG:

ES GEHT UM EIGENE SUIZIDVERSUCHE, SUIZID BEI EINEM NAHEN ANGEHÖRIGEN UND DROGENKONSUM.

 

von V.S. van den Broek

 

Das erste Mal an Suizid gedacht habe ich wohl irgendwann im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren. So ganz genau kann ich das heute nicht mehr sagen. Was mich davon abhielt war der Gedanke, ich könnte meine Mutter mit all den Problemen nicht alleine lassen. Irgendwie habe ich seit dem das Gefühl, ich müsste immer alles zusammen halten.

Meinen ersten tatsächlichen Suizidversuch hatte ich dann mit 18. Meine erste große Liebe hatte mich betrogen. Ich suchte Hilfe bei der Telefonseelsorge. Nach dem Gespräch ging es mir auch deutlich besser und ich fühlte mich hoffnungsvoll.

Der Mann riet mir, mich an einem Menschen zu orientieren, dessen Stärke mir ein Vorbild sei. Ich musste an meine mittlerweile verstorbene Mutter denken.

In der Nacht träumte ich davon, dass meine Mutter und mein Freund eine Affäre haben. Mich ließen die Gefühle, die der Traum auslöste, nicht mehr los. Das war´s dann.

Ich wollte nicht mehr. Und unternahm einen Suizidversuch.

Ich weiß nicht mehr wie, aber der Bruder meiner damals besten Freundin brachte mich ins Krankenhaus, wo man mein Leben rettete.

 

Zwei Jahre später kam dann tatsächlich die Trennung von meinem Freund. Das war okay, ich wollte ihn auch nicht zurück. Allerdings verlor ich mit ihm auch seine wunderbare Familie, die mich so liebevoll aufgenommen hatte - von den Eltern bis hin zu den Großeltern. Das erste Mal machte ich die Erfahrung, was eine "normale", intakte Familie ist. Das kannte ich vorher nicht und es machte mir klar, dass da ein tiefes Loch in mir drin ist, was niemals gefüllt werden kann. Eine unendlich tiefe Sehnsucht, dieses Loch mit all der Liebe, die ich durch diese Familie erfahren durfte, machte sich in mir breit und schien mich von innen heraus aufzufressen. 

Ganz langsam, aber mit voller Wucht. 

Ich experimentierte mit Drogen und hatte viel zu viele sexuelle Kontakte. Ich verlor jeglichen Halt. 

Immer mehr bekam ich das Gefühl, mich aufzulösen. Ich wurde nicht mehr um meiner selbst willen geliebt. Ich war da und dennoch wurde ich nicht gesehen.

An irgendeinem Morgen war die Leere so groß, dass ich beschloss mein Leben zu beenden. Ich war bereit, hinüber zu treten.

Ich rief noch meine Chefin an, um mich krank zu melden.

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie schien meine Chefin etwas gemerkt zu haben. Kurze Zeit später stand sie vor meiner Haustür. Sie brachte mich ins Krankenhaus.

Wieder mussten Ärzte mein Leben retten.

 

2006 war es noch einmal kritisch und ich ließ mich selbst einweisen. Das war mein erster Kontakt mit der Psychiatrie. Es war ein langer Weg, da wieder raus zu kommen. Ich lernte aber kurz vor meinem ersten Aufenthalt in der Klinik meinen Mann kennen. Ich konnte trotz allem positiv in die Zukunft blicken.

Mein Mann stand so fest an meiner Seite, dass mir irgendwann der Gedanke kam, wenn ich jemals heiraten würde, müsste er es sein.

Tatsächlich heirateten wir im August 2009. 

Alles schien perfekt zu sein. Ich hatte einen tollen, gut bezahlten Job in einer stationären Inobhutnahme. Tolle Kollegen und sehr nette Arbeitgeber, die auch von meiner Erkrankung wussten.

Dann kam der 14. März 2010, ein Sonntag. Ich hatte einen tollen Dienst mit meinem Kollegen und den Kindern. Wir lachten viel. 

Das Telefon klingelte. Mein Mann sagte mir "Du musst sofort kommen! Erika ( Name geändert) und Papa haben sich gestritten. (...) Papa ist im Krankenhaus."

Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles drehte sich und war dumpf. Die Worte meines Kollegen konnte ich gar nicht mehr erfassen. 

Es dauerte, bis ich einigermaßen verstand, was er mir sagen wollte. 

 

Mit meinem Mann verabredete ich mich am Hauptbahnhof, wo ich gefühlt eine Ewigkeit wartete. Als wir dann im Krankenhaus ankamen, klärte sich die Situation auf. 

Nach einem Streit haben sich mein Vater und seine Freundin getrennt. Mein Vater wollte sich daraufhin das Leben nehmen. Der Streit war der bekannte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Erika trifft keine Schuld oder jegliche Form von Verantwortung. Rückblickend hatte mein Vater schon lange Depressionen. 

Leider ist es so, dass, auch wenn man sich das Leben nehmen will, noch so viel Überlebensinstinkt in einem steckt, dass, man zu guter Letzt halb zurückschreckt vor der endgültigen Tat.

Mein Vater verstarb also nicht sofort. Mit dem letzten Bewusstsein rief er seine Lebensgefährtin an. Die alarmierte dann den Rettungswagen.

Uns wurde im Krankenhaus ziemlich schnell mitgeteilt, dass es keine Hoffnung mehr geben würde. Wir würden unseren Vater nur noch hinüber begleiten können.

Das war dann am 17.03.2010. 

 

Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich die ganze Zeit seine Hand hielt. Ich wollte nicht loslassen. Das kreischende Fiepen der Nulllinie bleibt für immer in meinem Kopf.

Drei Wochen danach ging ich wieder arbeiten und ich war froh darüber. Leider wurde die Inobhutnahme im Juni geschlossen und ich wurde versetzt. Somit war der Traumjob auch noch weg. 

Es ging so langsam bergab. Im September ging dann gar nichts mehr. Diagnose Agoraphobie, mit Panikattacken, zudem eine PTBS. Ich konnte kein Fernsehen mehr gucken und keine Musik mehr hören. Alles war zu viel. Absolute Reizüberflutung. Ich konnte nur noch in der Wohnung auf- und ablaufen. 

Schlafen konnte ich nur noch bei voller Beleuchtung und dann auch nur für wenige Minuten, bestens für eine halbe Stunde. 

Seit dem lebte ich mit einem inneren Dauerschrei, der mich die nächsten Jahre begleiten sollte. Emotional war es immer laut in mir, ich konnte nichts anderes mehr hören. Zum Schlafen wurde es langsam besser. Mir half der Einschlafen Podcast von Tobi Baier. 

Es folgten mehrere stationäre Aufenthalte in verschiedenen Kliniken. Ich durchlief mehrere Therapien. Häufig ging es um Expositionen. 

Mir flog das immer wieder um die Ohren. Ich verlor den Kontakt zu mir. Ich empfand es als Gewalt gegen mich selbst. Wie sich herausstellte kamen noch einige dissoziative Störungen hinzu.

 

Ich werde immer mal wieder gefragt, wie sich das anfühlt, Panikattacken zu haben. Ich habe dazu ein Bild. 

Stellen sie sich vor, Sie stehen auf der einen Seite einer achtspurigen Autobahn. Auf der anderen Seite ist ihr Kind oder eine anderer ihnen liebster Mensch. Dieser trägt eine Augenbinde und kann auch nichts hören. Diese Person bewegt sich immer wieder auf die Autobahn zu entlang des Seitenstreifens. 

Sie können diese Person retten, wenn sie irgendwie auf die andere Straßenseite kommen würden. Aber der Verkehr ist so dicht und die Autos so schnell. Das ist in etwa die Anspannung, in der man sich befindet. 

Ich schweife ab.

 

Was soll ich sagen, meine Krankheit hat meine Ehe überlebt. Mein Mann hat sich nach fast 15 Jahren von mir getrennt. Auch das hat mich erstmal in eine Krise gerissen. 

So sehr, dass ich anfing, die Stunden zu zählen, die ich überlebte. Keine Wochen, keine Tage, jede hässliche, schmerzende, verzweifelte Stunde. Immer mit dem Wissen, dass der Weg der Erlösung der einfachere wäre. Schließlich war mir ja nur noch meine Freundin geblieben. 

Vater und Mutter verstorben, der Mann weg und einzig eine Tante in der Eifel, die mich 16 Jahren nach dem Tod meiner Mutter bei sich aufnahm. 

Anfänglich unterstützte mich auch noch die Mutter meiner liebsten Freundin. Was sich nicht dauerhaft aufrecht erhalten lies.

Trotz meines Überlebenskampfes war ich in der Lage, mir Hilfe zu organisieren. 

So half mir der Sozialpsychiatrische Krisendienst. Anja, die ich in einer Telegrammgruppe kennenlernte und die sich immer die Zeit für mich nahm, auf meine Nachrichten zu reagieren. Tistra, Pasquale und Susanne aus meiner selbst gegründeten Telegrammgruppe. Ich führte sehr viele Gespräche und schrieb viel. Ich bekam Soziotherapie.

 

 

Ich erfuhr durch Zufall von Depribuddy.

Ich wurde von Bravo Ost und über Monate von Bravo Mitte (Sozialpsychiatrie) begleitet. Gerade das Team Mitte empfand ich stets als wertschätzend und zugewandt. Den Oberarzt möchte ich einmal besonders hervorheben. Schließlich stellte er mir Fragen, die mir in der langen Zeit meiner Erkrankung noch keiner gestellt hat. Zudem ist durch seine gezielten Fragen klar geworden, dass ich ein erhebliches Problem mit meiner Wut habe. Ganz wichtig war auch meine Therapeutin. Sie war mir in den schwersten und kritischsten Stunden eine sehr große Hilfe. Immer ansprechbar umschiffte sie mit mir die Verlockung der "einfachen" Lösung. Auch meinen Neurologen möchte ich als meinen Lebensretter bezeichnen. Sein Mitgefühl und seine Zuversicht haben mir Halt gegeben. 

Aber zuletzt und im besonderen meine beste Freundin. Manchmal, wenn man sich selber zum Weiterleben nicht genug ist, braucht man einen besonderen Menschen. 

Jemandem, der einen trotz allem liebt. Der dir das Gefühl gibt, dass in seinem Leben etwas wegbrechen würde, was unersetzbar ist. 

 

Mein neurotischer Kater Fritzi, der mich jeden Tag dazu bringt, vor die Tür zu gehen. Meine Nachbarn, die mich immer wieder aufgebaut haben. Bärbel, die für mich eine mütterliche Freundin geworden ist. Robin, der mich annimmt, so wie ich bin. 

Und die unendlich schönen Sonnenuntergänge im Voralpenland. Die Liebe zum guten Essen und zur Kunst. Letztere lässt mich immer wieder erstaunt und zu tiefst berührt zurück. 

Romana und Karsten sind auch noch zu erwähnen. 

Die meisten Menschen habe ich erst durch die Krise kennengelernt. Es ist also auch viel Gutes daraus entstanden. 

Depribuddy hat mir mit seinen vielen Angeboten, vor allem der Selbsthilfegruppe, geholfen, meine Woche zu strukturieren.

Und ja, auch Medikamente spielen eine wichtige Rolle. Ich bin nicht über den Berg, aber die dunkelsten Stunden habe ich überstanden. 

Den Schmerz, den mein Vater hinterlassen hat, bleibt. 

Vielleicht trägt mein Schritt, euch meine Geschichte zu erzählen ja dazu bei, die Scham über eure Erkrankung zu verlieren. Das würde mich sehr freuen.  

Bleibt tapfer und holt euch Hilfe. Wir sind viele und gemeinsam schaffen wir das!"

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